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Von Äpfeln und Birnen: Mitarbeiterbefragungen und die Evaluierung psychischer Belastung im Vergleich

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Seit 2013 besteht eine gesetzliche Pflicht für Arbeitgeber den eigenen Betrieb hinsichtlich der psychischen Belastungen zu evaluieren. Kleinunternehmen erleben es häufig als lästige neue Pflicht. Großunternehmen, aufgrund bestehender Mitarbeiterbefragungen, häufig mit Unverständnis, warum bestehende Befragungsprojekte nicht genutzt werden können. Vergleicht man hier Äpfel mit Birnen? Oder ist am Ende des Tages nur das „Obst“ das zählt?

Die gesetzliche Pflicht zur Evaluierung psychischer Belastungen stößt in zahlreichen Betrieben aufgrund existierender Mitarbeiterbefragungen auf wenig Gegenliebe. Gerade bei Großunternehmen, die nach Studien bereits zu 80% Mitarbeiterbefragungen als Instrumente etabliert haben, wird dies als Redundanz erlebt. Schließlich befragt man in beiden Fällen Mitarbeiter und in beiden Fällen will man Verbesserungsmaßnahmen im Betrieb ableiten. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass neben einigen grundsätzlichen Gemeinsamkeiten in der Erhebungsmethode, die Evaluierung psychischer Belastungen und eine Mitarbeiterbefragung hinsichtlich des Prozesses zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Bereits die Tatsache, dass es sich bei einer Mitarbeiterbefragung ausschließlich um eine Erhebung handelt mit offenen nicht-standardisierten Vor- und Nacharbeitungsprozess, ist die Belastungserhebung im Rahmen der Evaluierung psychischer Belastungen nur ein Puzzleteil eines fortlaufenden Evaluierungs-Prozesses:

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Aufbauend auf dieser grundlegenden Differenz sowie dem gesetzlich verpflichtenden Charakter der Evaluierung psychischer Belastungen, gibt es eine Vielzahl weiterer Unterschiede.

Rechenschaftspflicht – gesetzlich haftbar vs. intern verantwortlich

Die Evaluierung psychischer Belastungen ist verankert im Arbeitnehmerschutzgesetz und gesetzliche Pflicht für jeden Betrieb in Österreich. Verantwortlich und haftbar ist – wie in vielen Bereichen des Arbeitnehmerschutzes – der Arbeitgeber bzw. als Vertretung die Geschäftsführung. Die Mitarbeiterbefragung im Gegensatz hierzu ergibt sich häufig vor dem Hintergrund unternehmensinterner Zielsetzungen. Rechenschaftspflichten ergeben sich für die Projektverantwortlichen nur im internen Kontext, die rechtliche Konsequenzen eines Misslingens in der Regel wohl nicht fürchten müssen.

Mitarbeiter einbeziehen – Ganz oder gar nicht?

Partizipation der Mitarbeiter am Gesamtprozess ist ein vom Arbeitsinspektorat gefordertes Kriterium der Evaluierung. Nicht ohne Grund: an etwas mitzuwirken, sich mit einer (Experten-)Meinung einzubringen und mitzugestalten erhöht Interesse und Motivation daran, dem Gelingen des Vorhabens beizutragen. Somit ist die Partizipation der Mitarbeiter durch den gesamten Evaluierungs-Prozess hindurch ein wesentliches Puzzleteil für nachhaltig verbesserte Arbeitsbedingungen. In Mitarbeiterbefragungen können partizipative Elemente zwar inzwischen auch als Standard bezeichnet werden, dies ist aber nicht immer der Fall. Es gibt genug Beispiele für „Pulse-Befragungen“, „Stimmungsbarometer“, „Abfragen für das Management-Cockpit“ oder ähnliche Umfragen, die nie in Partizipation im eigenen Sinne münden sondern vor allem der Kennzahlengewinnung dienen.

Planen und Begleiten – Steuerungsgruppe vs. Projektgruppe

Während Mitarbeiterbefragungen häufig federführend von HR-besetzten Projektgruppen vorangetrieben werden, erfordert die Besetzung der Steuerungsgruppe im Rahmen der ASchG-Evaluierung eine breitere Beteiligung unterschiedlicher Parteien. Das ASchG sieht vor, dass Betriebsrat, Sicherheitsfachkraft, Sicherheitsvertrauensperson sowie Arbeitsmediziner und ggf. weitere Fachexperten (bspw. Arbeitspsychologen) die Evaluierung begleiten und Entscheidungen zentral fällen. Die unterschiedliche Besetzung der Projekt- bzw. Steuerungsgruppe hat Konsequenzen für den weiteren Verlauf: Arbeitnehmervertreter sind Interessensvertreter der Belegschaft und werden von dieser in der Regel auch als solche betrachtet. Dementsprechend sind sie gut informiert und können stark meinungsbildend als Multiplikatoren im Betrieb auftreten. Auch die unterschiedlichen Betrachtungswinkel der Beteiligten (organisatorisch, technisch, medizinisch, psychologisch, etc.) sind für die Anpassung der Arbeitsbedingungen förderlich. Projektgruppen in Mitarbeiterbefragungsprojekten werden leider oft zu HR-lastig besetzt. Dies fördert aufgrund weniger Beteiligter zwar die Effizienz, erschwert jedoch einen ganzheitlichen Blick auf den Betrieb.

Erheben – Standardisiertes Screening-Instrument vs. individueller Fragebogen

Die Belastungserhebung im Rahmen der Evaluierung psychischer Belastungen geschieht unter Verwendung standardisierter in der Ö NORM EN ISO 10075-3 beschriebener Erhebungsinstrumente. Die standardisierte Anforderung an diese Instrumente sorgt dafür, dass einheitliche Qualitätsstandards für Messverfahren erfüllt werden. Dabei sind die 4 Kernthemen der Evaluierung bereits vom Arbeitsinspektorat vorgegeben. Mitarbeiterbefragungen hingegen, werden mit weit mehr Spielraum aufgesetzt – sowohl was die Themen betrifft als auch die methodischen Möglichkeiten. Diese Flexibilität erlaubt eine maßgeschneiderte Vorgehensweise, angepasst auf die derzeitige Situation eines Unternehmens. Erst neuere Ansätze lösen diesen Gegensatz auf und gehen in Richtung einer integrierten Messung (vgl. Personalmanager 2015/07, „Ist belastungsfrei schon hoch motiviert?“).

Ergebnisse auswerten – Homogene Tätigkeitsgruppen vs. Abteilungen

Während bei der Evaluierung die Arbeitsbedingungen den Befragungsgegenstand darstellen, ist bei der Mitarbeiterbefragung die Mitarbeitermeinung und das Mitarbeitererleben Befragungsgegenstand (ein oft übersehener aber fundamentaler Unterschied). Dieser Logik folgt auch die Auswertung. Im Rahmen der Evaluierung wird nach vergleichbaren Arbeitsbedingungen bezüglich aller erhobenen Befragungsinhalte ausgewertet. Dies führt dazu, dass besondere „Einzelarbeitsplätze“ ggf. auch gesondert betrachtet werden müssen (bspw. die zwei Chauffeure, der eine Rezeptionist, der eine Berufstaucher). In Mitarbeiterbefragungen folgt die Bildung der Auswertungseinheiten in der Regel den vorhandenen Abteilungen und dem Organigramm. Ein organisatorisch oft einfacherer Zugang, der auch einer eindeutigen Verantwortlichkeit in der Aufarbeitung der Ergebnisse entspricht: der Linienführung.

Ergebnisse beurteilen – externe Benchmarks vs. interne Vergleiche

Das Kernstück von Erhebungen ist die Beurteilung der Erhebungsergebnisse und darauf aufbauend die Ableitung der nächsten Schritte. Wie werden Ergebnisse im Rahmen der ASchG-Evaluierung beurteilt? Gesetzlich festgelegter Beurteilungsmaßstab ist das (nicht) Vorhandensein von Gefahren (Gefahren = arbeitsbedingte physische und psychische Belastungen, die zu Fehlbeanspruchungen führen gem. § 2(7) ASchG). Da für die Belastungserhebung ausschließlich ÖNORM 10075-3 erfüllende Verfahren eingesetzt werden, sollte hier in jedem Fall eine repräsentative Vergleichsstichprobe als Vergleichsmaßstab eingesetzt werden. Vor dem Hintergrund steigender psychischer Erkrankungen durch arbeitsbedingte Belastungen, sollten infolgedessen solche Erhebungsergebnisse als potenzielle Gefahr beurteilt werden, die in einem Betrieb zumindest stärkere Ausprägungen aufzeigen, als dies der Fall am gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt ist. Dieser Vergleichsmaßstab ist unter Einsatz individualisierter Mitarbeiterbefragungen schwerer möglich. Denn sowohl nicht-repräsenative Benchmarkingdatenbanken einzelner Anbieter als auch Vergleiche mit einer bspw. aus einem Wettbewerb stammenden „Bestengruppe“ bieten keine dem Gesetzgeber entsprechenden Einordnungskriterien: diese sind nicht repräsentativ.

Maßnahmen ableiten – Muss vs. Soll

Die Evaluierung fordert die Ableitung von Maßnahmen auf Basis der Beurteilung der Erhebungsergebnisse. Keine Maßnahmen abzuleiten mit dem Argument, man würde das Ergebnis nicht als Gefahr beurteilen, ist hier nicht der richtige Weg. Denn sogar bei nicht abgeleiteten Maßnahmen gilt es, eine klare Argumentation dafür zu entwickeln. Wie genau die Maßnahmen abzuleiten sind, hat der Gesetzgeber nicht festgelegt. Etabliert hat sich die Durchführung von Mitarbeiter-Workshops, welche jedoch gesetzlich keineswegs verpflichtend sind. Die Arbeit in reinen Expertengruppen wäre ebenso zulässig. Festgelegt hingegen ist jedoch, wie Maßnahmen auszusehen haben: Maßnahmen sollten der Belastungsursache an der Quelle entgegenwirken und kollektive Wirksamkeit entfalten. Um kollektiv wirksam sein zu können, müssen Maßnahmen an den Arbeitsbedingungen ansetzen. Da es leichter gelingt Arbeitsbedingungen an Menschen anzupassen, als Menschen an Arbeitsbedingungen anzupassen, fördert diese Vorgabe die Nachhaltigkeit von Maßnahmen. Dem Follow-up von Mitarbeiterbefragungen sind keinerlei Grenzen gesetzt: ob, wie, wann und von wem Maßnahmen gesetzt werden, obliegt den Verantwortlichen im Unternehmen. Dementsprechend sind in der Praxis viele Maßnahmen die aus Mitarbeiterbefragungen entstehen für eine Evaluierung nach ASchG im engeren Sinne auch nicht geeignet. So kann ein „Teamcoaching“ nach einer Mitarbeiterbefragung ggf. einen akuten Teamkonflikt lösen helfen, dies wäre aber keine kollektiv wirksame Maßnahme im Sinne des Arbeitsinspektorates, da die Arbeitsbedingungen nicht direkt im Zentrum stehen.

Maßnahmen umsetzen und Wirksamkeit überprüfen

Die Umsetzung von Maßnahmen, ebenso die Wirksamkeitsüberprüfung müssen mit Zuständigkeit und Frist im Sicherheits- und Gesundheitsschutzdokument festgelegt werden – in diesen Dokumenten mündet der Maßnahmenplan der Unternehmen letztlich als Dokumentation ein. Wann die Umsetzung zu beginnen hat und bis wann diese abgeschlossen sein muss, lässt der Gesetzgeber offen. Wie genau die Überprüfung zu erfolgen hat, richtet sich nach der Maßnahme und kann von einer Überprüfung der Umgebungslautstärke (bspw. nach Einrichtung von Schallschutzmaßnahmen) mittels Schallpegelmessgerät bis zur wiederholten Belastungserhebung gehen. Die Umsetzung und Überprüfung von Maßnahmen als Follow-up von Mitarbeiterbefragungen hängt stark von Betrieb selber ab. Jedenfalls jedoch fehlt der Rückenwind der gesetzlichen Verpflichtung: Eigenverantwortung ist gefragt.

Gut Ding braucht Weile

Die Evaluierung psychischer Belastungen ist im Ganzen ein gut durchdachter Prozess bei dem viele Zahnräder ineinander greifen. Es bleibt aber in der Praxis eine echte Herausforderung, die oft komplexen betrieblichen Strukturen von Unternehmen mit den gesetzlichen Anforderungen an die Evaluierung psychischer Belastungen in Übereinstimmung zu bringen. Diesem Umstand trägt der Gesetzgeber prinzipiell Rechnung, indem er bei der Beurteilung, Maßnahmengestaltung und Umsetzung von Maßnahmen breite Spielräume lässt. Die Praxis zeigt aber, dass sowohl auf Seiten der Unternehmen als auch auf Seiten der Arbeitsinspektoren ein paralleler Lernprozess stattfindet, der über die letzten Jahre Evaluierungsprojekte zusehends professionalisiert hat. Aber es heißt ja ohnehin schon sprichwörtlich: Gut Ding braucht Weile.


Gastautorin

Victoria Grothe, vieconsult

Victoria Grothe studierte Psychologie und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Wien. Im Rahmen des Studiums spezialisierte Sie sich in den Bereichen psychologische Diagnostik sowie Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Die zertifizierte Arbeitspsychologin ist bei der vieconsult GmbH Projektmanagerin für Organisationsforschungsprojekte und dabei unter anderem auf die Durchführung von Evaluierungsprojekten nach dem ASchG spezialisiert.


Von Äpfeln und Birnen: Mitarbeiterbefragungen und die Evaluierung psychischer Belastung im Vergleich

Mag. Gerd Beidernikl | Teil unseres fixen Autoren-Teams

Mag. Gerd Beidernikl ist geschäftsführender Gesellschafter von vieconsult, der Vienna Corporate Research and Development GmbH und Lehrvortragender für Organisationssoziologie.

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