In einer Zeit, in der Hierarchien bröckeln und Netzwerke das neue Spielfeld sind, braucht auch Executive Mentoring ein radikales Update.
Gast-Autor: Jeffrey Beeson
Dieser Beitrag zeigt, warum vertraute Methoden nicht mehr greifen und wie ein Perspektivwechsel den entscheidenden Unterschied macht.
Die alten Karten funktionieren nicht mehr
Früher wurde der Erfolg von Führungskräften oft durch Klarheit definiert: es gab klare Ziele, klare Pläne, klare Hierarchien. Die Aufgabe von Führungskräften bestand darin zu lenken, zu entscheiden und zu liefern.
Doch das heutige Umfeld spielt nach anderen Regeln. Störungen sind an der Tagesordnung. Grenzen verschwimmen. Strukturen geraten unter Druck. Die Signale, auf die sich Führungskräfte einst verlassen konnten – Marktindikatoren, interne Kennzahlen, Managementroutinen – gehen im Lärm unter oder werden vom ständigen Wandel überholt.
Kurz gesagt: Die alten Karten funktionieren nicht mehr.
Dennoch versuchen viele Praktiken der Führungskräfteentwicklung, insbesondere das Executive Mentoring, noch immer, dieses neue Terrain mit Werkzeugen aus dem 20. Jahrhundert zu durchqueren. Diese Werkzeuge gehen von Stabilität voraus und legen den Schwerpunkt auf Antworten und Orientierung, als gäbe es noch immer einen einzigen, linearen Pfad zum Erfolg.
Doch die Herausforderung in der heutigen Welt ist nicht die Umsetzung von irgendwelchen Handlungsempfehlungen – es ist die Navigation. Innerhalb von Komplexität zu navigieren erfordert ein grundlegend neues Verständnis von Führung und Mentoring.
Vom Ratschlag zur Perspektive
Beginnen wir mit einer einfachen Wahrheit: Führungskräfte leiden nicht an Informationsmangel, sie sind regelrecht umgeben davon. Was ihnen oft fehlt, ist der Durchblick, das heißt die Fähigkeit, mit konkurrierenden Prioritäten, verborgenen Dynamiken und undurchsichtigen Machtstrukturen zu durchschauen und damit umzugehen.
Genau hier scheitert das traditionelle Executive Mentoring oft: Es versucht, Lösungen anzubieten, wo in Wirklichkeit ein Perspektivwechsel nötig wäre. Neue Sichtweisen ermöglichen es Führungskräften, den sie umgebenden Kontext klarer zu erkennen.
In komplexen Systemen kommt es nämlich weniger darauf an, was man weiß, sondern von wo aus und auf welche Weise man die Dinge sieht.
Führen in Netzwerken, nicht in Hierarchien
Auf dem Papier erscheinen die meisten Organisationen als hierarchische Strukturen. Hinter einem Organigramm verbirgt sich jedoch eine ganz andere Realität: ein lebendiges Netzwerk von Beziehungen, Informationsströmen und informellen Einflüssen.
Das ist das eigentliche Terrain, in dem sich Führungskräfte heute bewegen müssen.
In diesem Umfeld wirkt Vertrauen schneller als hierarchische Autorität. Entscheidungen werden getroffen in dem Raum zwischen den Menschen, die bestimmte Rollen innehaben. Fortschritt hängt hier letztlich weniger von Machtpositionen ab, sondern mehr von Verbindungen, Timing und Klarheit.
Hier wird eine netzwerkbasierte Sichtweise zum entscheidenden Wendepunkt für Führungskräfte: Aus dieser neuen Perspektive erkennen sie die Organisation als ein System von wechselseitigen Interaktionen, nicht als eine Ansammlung von Kästchen. Diese neue Sichtweise lässt neue Muster hervortreten:
- Wer die wirklichen Einflussnehmenden sind
- Wo Informationsengpässe bestehen
- Wo Initiativen nicht am Widerstand, sondern an falsch ausgerichteten Verbindungen scheitern
Diese unsichtbare Architektur zu erkennen hilft Führungskräften nicht nur, ihren Kontext zu verstehen. Es hilft ihnen auch, sich innerhalb des Systems zielgenauer, wirkungsvoller und oftmals auch menschlicher zu bewegen.
Mentoring bedeutet übersetzen, nicht fertige Rezepte liefern
In dieser neuen komplexen Welt geht es bei Executive Mentoring weniger darum, ein Drehbuch vorzugeben, sondern die Bühne zu verstehen, d.h. die Kontexte der Organisation sichtbar zu machen. Die wertvollsten Mentoren und Mentorinnen agieren heute weniger als allwissende Ratgebende, sondern als begleitende Wegführer: Sie helfen Führungskräften Signale zu entdecken, Dynamiken zu verstehen und jene Hebelpunkte zu erkennen, an denen Maßnahmen tatsächlich Wirkung entfalten.
Diese Mentoren übersetzen Komplexität in Erkenntnis. Nicht durch Vereinfachung, sondern durch Erkennung von Mustern. Nicht mit Standardratschlägen, sondern indem sie Führungskräfte dabei unterstützen zu erkennen, wie das System um sie herum „tickt“ und funktioniert und an welchen Stellen Veränderungen angebracht sein könnten.
Wir haben diesen Wandel in unserer Arbeit mit Senior Executives aus erster Hand erlebt:
Ein neuer Bereichsleiter steckte in einer nur schleppend verlaufenden Transformation fest. Es stellte sich heraus, dass nicht Widerstand das Problem war, sondern zwei interne, zuverlässige Schlüsselpersonen versehentlich aus dem Prozess ausgeschlossen worden waren. Mit der erneuten Einbindung dieser Personen kam der Transformationsprozess wieder in Schwung.
Ein Regionaldirektor stellte fest, dass sein Einfluss nicht so weit reichte, wie sein Titel vermuten ließ. Durch die Identifizierung und Einbindung einer informellen Schlüsselfigur, die als eine wichtige informelle „Brücke“ zwischen den Teams fungierte, konnte der Fluss der Zusammenarbeit wiederhergestellt und die ins Stocken geratenen Initiativen erneut in Gang gebracht werden. (‚Brücke‘ ist ein Begriff aus der Netzwerktheorie für jemanden, der als Bindeglied andere über Abteilungsgrenzen (Silos) hinweg verbindet).
Das sind keine abstrakt-theoretischen Erkenntnisse, sondern netzwerkinformierte Lösungsmöglichkeiten, die den Unterschied zwischen reibungslosen (Flow) und stockenden Abläufen (Friktion) ausmachen.
Mentoring für netzwerkorientierte Führung
Diese Form des Executive Mentoring unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von traditionellen Ansätzen. Sie konzentriert sich nicht nur auf die einzelne Führungskraft, sondern auch auf das von ihr geführte System, und erkundet, wie diese beiden Perspektiven miteinander interagieren.
Zu den wichtigsten Praktiken eines Network Leaders gehören:
- Visualisierung des Systems: Einsatz von Netzwerk-Mapping und Diagnosetools, um den tatsächlichen Fluss von Vertrauen, Zusammenarbeit und Einfluss sichtbar zu machen.
- Hebelpunkte erkennen: Unterstützt Führungskräfte dabei zu erkennen, an welchen Stellen Maßnahmen angesagt sind, und wo kein Eingreifen erforderlich ist. Auf diese Weise lässt sich innerhalb der gesamten Organisation maximale Wirkung erzielen.
- Ein Gespür für das System entwickeln: Führungskräfte werden in die Lage versetzt, frühzeitig schwache Signale, aufkommende Muster und Beziehungsdynamiken wahrzunehmen, die sie sonst vielleicht übersehen würden.
- Begleitete Reflexionsprozesse mit Fokus auf Handlung: Gedankenreiche Gespräche in Kombination mit zeitnahen konkreten Maßnahmen ermöglichen es Führungskräften, Interventionen in Echtzeit zu testen und anzupassen.
Dabei geht es nicht darum, Führungskräften ein neues Modell an die Hand zu geben: Es geht darum, ihre Fähigkeit zu stärken, wahrzunehmen bzw. zu spüren. Also nicht mit Bestimmtheit zu führen, sondern mit klarem Verständnis.
Was Führungskräfte dabei tatsächlich gewinnen
Was vermag diese Art des Mentoring den Führungskräften zu vermitteln?
In jedem Fall nicht nur Erkenntnisse, sondern ganz neue Formen von Vertrauen und Anpassungsfähigkeit:
- Klarheit trotz Komplexität: Die Fähigkeit, die dem Netzwerk zugrunde liegenden Dynamiken zu erkennen und zwischen Dringendem und Wesentlichem zu unterscheiden.
- Strategische Beziehungen: Ein geschärfter Blick dafür, wer wichtig ist, wo Entscheidungs- und Machtflüsse verlaufen und wie man die Agierenden am wirkungsvollsten auf Veränderungsprozesse ausrichtet.
- Organisationale Agilität: Die Fähigkeit, sich nicht gegen die, sondern mit der Komplexität des gegebenen Kontextes zu bewegen und Strategien dabei flexibel anzupassen, ohne die Richtung zu verlieren.
Viele Führungskräfte erleben dabei einen Aha-Moment, den sie als einen transformativen Wendepunkt beschreiben:
„Ah, jetzt sehe ich das System – und ich weiß, wo ich handeln muss.“
…. und das nicht, weil ihnen jemand gesagt hat, was zu tun ist, sondern weil das Executive Mentoring sie in die Lage versetzte zu erkennen, was bereits vorhanden ist, und wie sie mit diesen Realitäten umgehen können.
Was bedeutet das für das HR- und Talent-Management?
HR-Profis erkennen oft als Erste, wenn Führungskräfte überfordert, falsch ausgerichtet oder blockiert sind. Für sie ist klar ersichtlich, wo Energie verloren geht, wo Silos in Isolation verhärten und wo Entscheidungsprozesse ins Stocken geraten.
Was wäre, wenn Executive Mentoring diese Probleme nicht mit noch mehr Ratschlägen, sondern aufgrund neuer Blickweisen mit mehr Erkenntnissen angehen könnte?
Genau das leistet das netzwerkinformierte Executive Mentoring. Es unterstützt Führungskräfte dabei, sich in dem System, das sie leiten, zu verorten und sich darin mit größerer Präzision, Präsenz und Partnerschaftlichkeit zu bewegen. Dieser Ansatz erweist sich als besonders wertvoll im Zuge einer Transition, einer tiefgreifenderen Transformation oder einer Geschäftserweiterung. An solchen Wendepunkten brauchen Führungskräfte keinen Fahrplan, sondern vielmehr einen Wegführer, der ihnen hilft, das Terrain klar zu erkennen.
Die neue Rolle von Executive Mentoring
In einer Welt, die von Volatilität und Vernetzung geprägt ist, geht es bei Executive Mentoring nicht mehr um reine Wissensvermittlung. Es kommt vielmehr darauf an, Führungskräften neue Wege des Sehens, Wahrnehmens und Führens zu eröffnen.
Das ist kein Luxus, sondern eine strategische Notwendigkeit für Unternehmen, die sich ernsthaft darauf ausrichten, in einer komplexen Welt erfolgreich zu bestehen.
HR-Profis und Talentarchitektinnen haben damit die einmalige Chance, eine sinnvollere Form der Führungskräfteunterstützung zu gestalten: Dieser neue Ansatz für Executive Mentoring hat nicht nur den Einzelnen, sondern das ganze System im Blick.
Die eigentliche Aufgabe von Führung besteht heute nicht mehr darin, die richtigen Antworten zu haben, sondern darin, die besseren Fragen zu stellen. Darüber hinaus geht es darum, dass Führungskräfte erkennen, an welcher Stelle im System diese Fragen gestellt werden müssen. Denn genau dort kann der größte Unterschied bewirkt werden.
Executive Mentoring für eine neue Ära | Führen in Zeiten der Komplexität
Gast-Autor
Jeffrey Beeson ist Pionier für Network Leadership – ein Führungsansatz, der auf die Kraft der Verknüpfungen setzt. Der Strategie- und Führungskräfteberater war weltweit für McKinsey und Bain & Company tätig. Als Gründer von Ensemble Enabler befähigt er heute Unternehmen, die Stärken ihrer Mitarbeiter zu nutzen und sich Schritt für Schritt in eine Netzwerkorganisation zu überführen. Er war acht Jahre lang Vorstand der „International Leadership Organisation“ und ist Autor von „Network Leadership“, erschienen bei Cambridge University Press (2024). Jeffrey Beeson lebt in München und spielt leidenschaftlich gerne Schach.
www.networkleadership.eu/de